Die Balvier Wielands

Die Geschichte einer Kemtauer Familie, zusammengestellt von Roland Kunick und Elsbeth Langer im Sommer 2009

Das Haus der Wielands ca. 1950
Das Haus der Wielands ca. 1950

Johann Traugott Wieland wurde im Jahr 1773 als vierter Sohn erster Ehe von Johann Christoph Wieland (1748-1830) geboren. Sein Vater war in dritter Generation Bauer auf dem Roschergut in der Gelenauer Str. 47 in Kemtau. Er war insgesamt viermal verheiratet gewesen. Im 19. Jahrhundert war der Name Wieland in Kemtau sehr verbreitet, weil Johann Christoph 18 seiner 20 Kinder großziehen konnte. Wäre Fußball schon damals populär gewesen, hätten seine 11 Söhne als eine komplette Mannschaft spielen können.   

Als Kind erhielt Traugott wie damals üblich den Schulunterricht teils in Kemtau und teils in Burkhardtsdorf. Dort diente er anschließend zwei Jahre. Nach erlangter Konfirmation blieb er im väterlichen Hause und unterstützte seine Eltern in der Wirtschaft. Als er 18 Jahre alt war wurde er zum Militär einberufen. Mit 21 Jahren erlernte er in Kemtau das Strumpfwirkerhandwerk bei seinem zwei Jahre älteren Bruder Johann Christoph Wieland.

Im Jahr 1798 lernte Traugott seine spätere Frau Christiane Eleonore, eine Tochter des Bauern und Landfuhrmanns Michael Uhlich in Kemtau, kennen. Christiane Eleonore war erst 16 Jahre alt als sie ihm 1799 seinen ersten Sohn gebar. Bis zum Jahr 1803 diente Traugott als Grenadier bei dem löblichen Prinz Maximilianischen Infanterie Regiment. Kurz nach seiner Verabschiedung vom Militär ließ sich Traugott Wieland 1804 mit Christiane Eleonore Uhlich trauen.

Im Jahr 1792 kaufte Traugott von seinem Vater das zu dessen Gut gehörige Gemeindeflecken für 40 Gulden. Noch im gleichen Jahr baute Johann Christoph bei seinem Gut ein neues Haus, das sich heute in der Gelenauer Str. 43 im Besitz der Familie Welthe befindet. Das Haus wird bei der Festlegung der Abgaben 1821 wie folgt beschrieben: “das Haus sammt Garten, wovon ersteres 18 Ellen lang und 14 Ellen weit übersetzt und mit Stroh gedeckt auch im niedern Stockwerk steinern ist, übrigens auch eine Wohnstube sammt Stall und Kühe, und im obern Stockwerk, welches aus Holz und Kleibewerk besteht 1 Stube und 3 Kammern in sich begreift, letzteres der Garten aber, welcher von guter Qualität ist 4 Metzen Kornaussaat ...“. Im Jahr 1799 kaufte Traugott von seinem Vater das neugebaute Haus nebst der dazugehörigen Spitze Garten für 400 Taler.

Der Grenadier Traugott hatte sich eigentlich für 15 Jahre verpflichtet. Als Häusler und Vater mehrerer Kinder kam er 1803 nach 10 Jahren Dienstzeit von der Armee los. Der Bauer Johann Christoph Wieland unterstützte auch andere seiner Kinder beim Hauserwerb in Kemtau und verkaufte im Jahr 1810 das Gut an seinen Schwiegersohn Carl Gottlieb Lohs aus Kemtau für 2000 Taler.

Die Nachkommen von Traugott Wieland, die später das Haus bewohnten, trugen allesamt den Spitznamen „Balvier“ vor ihrem Vornamen. „Balvier“ steht für Barbier und ist die veraltete Berufsbezeichnung für Friseur. Neben dem Haare schneiden haben sich Barbiere als „Bartscheerer“ betätigt. Wahrscheinlich war der Dorf-Barbier zu dieser Zeit auch gleichzeitig der „Zahnarzt“. Gemäß Familienüberlieferung waren die Wielands im 18.Jahrhundert Barbiere. So soll der erzgebirgische Volksheld Karl Stülpner (1762-1841) beim Barbier in Kemtau gewesen sein.

Aus der Predigt zu seiner Beerdigung 1842 erfahren wir mehr aus dem Leben der Familie Traugott Wieland: „Ihr Ehestand war reichlich mit Kindern gesegnet und daher auch mit großen Sorgen und Mühsal verbunden. Gott segnete sie mit 16 Kindern, deren Ernährung und Versorgung, besonders zur teuren Zeit 1816 und 1817 ihnen unmöglich worden wären, wenn sie nicht gute Freunde (mehrere Begüterte und die wohlhabenden Geschwister der Ehefrau) gefunden hätten, die sie mit milden Gaben unterstützten. Er war ein guter Gatte und Vater, gegen seine Nachbarn erwies er sich verträglich und dienstfertig. Als Christ war er fromm und zeigte sein Christentum durch geduldige Ertragung seiner großen Leiden (war 8 Jahre schwer krank und musste die letzten 3 Jahre das Bett hüten).

Christian Friedrich Wieland kam im Jahr 1803 als vierter Sohn von Traugott Wieland auf die Welt. Wie acht seiner neun Brüder erlernte auch Friedrich das Strumpfwirkerhandwerk. Später wird er auch Strumpfwirkermeister. Ob Christian Friedrich und sein Vater Traugott Barbiere waren oder nur einer der Beiden, kann leider nicht festgestellt werden.

Im Jahr 1828 wird Christian Friedrich Wieland mit Johanna Concordia, Tochter des Hausauszüglers und Strumpfwirkers Johann Gottlieb Hösel in Kemtau getraut. Johanna Concordia wurde 13 mal Mutter, allerdings starben alle drei Söhne und vier der Töchter kurz nach der Geburt. Die Eltern zogen neben den sechs Töchtern auch zwei Pflegesöhne groß.

Christian Friedrich kauft 1833 von seinem Vater Traugott Wieland das Haus Nr. 7 mit Grundstück für 250 Taler und das Gemeindewiesenstück am Ende des Dorfes für 50 Taler. 

Im Kaufvertrag behält sich Vater Traugott als Verkäufer ein ausdrückliches Unterpfandsrecht vor: „... sich und seinem Eheweibe in dem verkauften Hause auf Lebenszeit nicht nur die freie Wohnung und zwar die darinnen befindliche Oberstube und daran stoßende Kammer, sowie die sogenannte Feuerofenkammer, sondern auch ein Plätzchen zur trockenen Aufbewahrung seines Feuerholzes, desgleichen ein Plätzchen im Keller, zur Aufbewahrung seiner Erdäpfel und einen Platz zum Düngermachen, drei Beetchen im Grätzgärtchen, die Befugnis, alljährlich zwei Gänse halten zu dürfen, und die Hälfte von dem alljährlich zu erbauenden Obste, welches alles Käufer auch zugesteht.  Sowie zum Verkäufern unbenommen bleibt, seine unerzogenen Kinder bei sich in der Auszugsstube zu behalten, als verpflichtet sich auch Käufer solchen auch nach des Auszüglers Ableben, bis zu ihrem 21. Lebensjahr den freien Aufenthalt bei sich in dem erkauften Hause zu gestatten.“ 

Die Ehefrau Johanne Concordia war in ihrem Leben mehr krank als gesund (Zitat des Pfarrers) und starb 1856 im Alter von 52 Jahren. 

Im Jahr 1872 verkaufte Christian Friedrich Wieland das Wiesengrundstück, die sogenannte Gemeindeparzelle von 12,7 Ar, für 188 Taler an den Korbmacher Carl Gottlob Herrbach. Da Christian Friedrich nicht schreiben kann, vermerkte der Gerichtsschreiber bei seiner Unterschrift unter dem Namen „mit geführter Feder“, an anderer Stelle auch „mit berührter Feder“. Bis 1872 betrieben die Wielands, wie damals für Häusler üblich, eine kleine Landwirtschaft. Vermutlich wurde nach dem Verkauf der Wiese das Haus umgebaut. Der 1821 im Untergeschoss des Hauses beschriebene Stall mit Kühen war nun überflüssig und wich der späteren Mangelstube.  

Amalie Agnes Wieland wurde im Jahr 1839 als fünfte Tochter des Strumpfwirkers Christian Friedrich Wieland geboren. Im Jahr 1865 waren ihre fünf Schwestern bereits verheiratet und von zu Hause ausgezogen. Amalie Agnes wurde 1867 Mutter und ihr unehelicher Sohn wurde auf den Namen Friedrich Oswald Wieland getauft. Der Vater des Kindes war der Strumpfwirker Friedrich Wilhelm Kunz in Kemtau. Christian Friedrich Wieland untersagte seiner Tochter Amalie Agnes die Trauung mit dem Vater ihres Kindes. Oswald blieb das einzige Kind von Amalie Agnes und der Name Wieland blieb in der Familie erhalten. Amalie Agnes lebte mit ihrem Vater zusammen und war als Fabrikarbeiterin im Ort beschäftigt.

Ende 1884 verkaufte der damals 81-jährige Strumpfwirkermeister Christian Friedrich Wieland das Haus mit Grundstück für 3600 Mark an seinen Enkel Robert Louis Lasch, Strumpfwirker in Kemtau. Die Mutter von Robert Louis Lasch war Christiane Wilhelmine, die dritte Tochter von Christian Friedrich Wieland. Sie starb im März 1885. Gemäß Kaufvertrag kann Christian Friedrich solange er lebt mit seiner Familie in der „jetzt innehabenden Wohnung“ verbleiben und zahlt dafür jährlich 30 Mark Mietzins. Im Kaufvertrag von 1884 werden auch die für Häuser damals vorschriftsmäßigen Feuerlöschgeräte aufgezählt: „1 Leiter, 1 Feuerhaken, 1 Feuerlöschwisch, 1 Wassereimer und 1 Laterne“.

Der neue Besitzer des Hauses Robert Louis Lasch hat Schwierigkeiten den Kaufpreis wie vereinbart zu bezahlen. Ende 1889 schließlich klagt Christian Friedrich Wieland, vertreten durch den Rechtsanwalt Justizrat Dr. Enzmann in Chemnitz, von seinem Enkel Robert Louis Lasch die Zahlung der ausstehenden 1055 Mark zuzüglich Zinsen und Prozesskosten ein. Anschließend ziehen Christian Friedrich Wieland und seine Tochter Amalie Agnes Wieland vorübergehend nach Einsiedel. Zur gleichen Zeit zog auch Oswald nach Einsiedel. Zuvor war er nach seiner Konfirmation in Chemnitz wohnhaft gewesen. Im Adressbuch der Jahre 1882-88 ist Oswald als Handarbeiter und 1889 als Strumpfwirker verzeichnet.

Am 9.August 1890 kommt es zur Zwangsversteigerung des Kemtauer Hauses Nr. 7, das Christian Friedrich Wieland für das Höchstgebot von 3500 Mark zurück erwarb. Er trat das Erstehungsrecht an seinen Enkel Oswald Wieland ab. Für den Erwerb von Haus und Grundstück nahm Oswald 2.500 Mark als Kredit auf.

Im Juli 1890 wird Oswald Wieland mit der Strumpfnäherin Hulda, Tochter des Häuslers und Strumpfwirkermeisters Friedrich Wilhelm Siegert in Burkhardtsdorf, getraut. Ihr Vater starb bereits als sie 2 Jahre alt war. Kurz vor der Heirat hatten Oswald und Hulda bereits eine kleine Familie gegründet: im April des Jahres kam Tochter Frieda auf die Welt. Ihr folgten die weiteren Kinder Maximilian 1895, Flora 1898 und Rudolf 1907. Für den Namen Maximilian soll sein Uropa Christian Friedrich Wieland mit verantwortlich gewesen sein. Der Überlieferung nach wünschte er sich einen schönen kurzen Namen und sagte: nennt ihn Max. 

Seit dem Erwerb des Hauses durch Oswald lebten seine Mutter Amalie Agnes und der Großvater Christian Friedrich wieder in Kemtau im Haus Nr. 7. Christian Friedrich Wieland starb 1897 im begnadeten Alter von 93 Jahren. Seine Tochter Amalie Agnes starb 1906.

Bild von 1896: Die Freiwillige Feuerwehr Kemtau – Oswald Wieland sitzt auf dem Stuhl in der ersten Reihe ganz links
Bild von 1896: Die Freiwillige Feuerwehr Kemtau – Oswald Wieland sitzt auf dem Stuhl in der ersten Reihe ganz links

Oswald wurde wegen seiner Vorfahren im Dorf „Balvier-Oswald“ genannt. Im folgenden berichtet Elsbeth Langer über ihre Erinnerungen an die Großeltern:

„Oswald Wieland, mein Großvater, arbeitete so lange ich mich erinnern kann als Strumpfwirker bei Loos & Schubert im Kemtauer Ortsteil Kamerun und zwar bis zur Rente. Im Haus Nr. 7 und auch im Dorf galt er als die gerechte Respektsperson. Er arbeitete viele Jahre im Kemtauer Gemeinderat mit, war im Vorstand des Konsum-Vereins tätig und viele Jahre Mitglied der freiwilligen Feuerwehr Kemtau. Seine verbleibende Freizeit und auch jeden Pfennig, den die Familie nicht unbedingt zum Leben brauchte, wurde für Haus und Grundstück verwendet. Er hat z.B. Wasserleitungen ins Haus und in jede Wohnung legen lassen und war damit einer der ersten Häusler im Ort. Noch vor dem ersten Weltkrieg baute er einen großen Schuppen für Holz und Kohle mit separatem Eingang für jede Familie. Nach dem Weltkrieg ließ er für damalige Zeit moderne Toiletten am Haus anbauen. An dem alten Haus waren ständige Reparaturen erforderlich. Oswald war zwar etwas streng, hatte aber gern seine Kinder und Enkel um sich. Für uns alle starb er 1937 viel zu früh.

Meine Großmutter Hulda Wieland, beide wurden von uns allen nur Mutter und Vater genannt, war eine kleine zierliche Frau. Ich kenne sie nur mit weißem Haar, einem kleinen Haarnestchen, roten Backen, freundlichen liebevollen Augen und ohne Zähne, was uns aber niemals auffiel oder gar störte. Sie kochte den besten Kakao und backte den besten Kuchen, schimpfte nie und besonders mein Bruder und ich konnten nie erwarten bis Feiertage oder Ferien waren, denn die Verbrachten wir während unserer Kindheit immer bei Mutter und Vater. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich eine Mangelstube mit einer Handmangel, die mit großen schweren Steinen belastet war. Bis weit in die 30-iger Jahre kamen fast alle Frauen des Dorfes dort mit ihrer Wäsche zur Rolle. Mutter verlangte je nach Rollzeit 2-5 Pfennige. In der Stube war ein Wandschrank mit Glastür eingebaut. Drin standen besondere Tassen und Gläser und ein kleines Bierglas mit Henkel, in dem die Rollpfennige gesammelt wurden. Und das war Mutters zusätzliches Wirtschaftsgeld. An ein besonderes Erlebnis erinnere ich mich noch. Als im Mai 1945 die russischen Soldaten in unser Dorf einzogen waren wir jüngeren Frauen aus Angst in den Wald geflüchtet. Nur unsere Mutter und mein Vater waren im Haus. Als ein junger Russe in die Stube unserer Mutter kam, sie war da schon fast 80 Jahre alt, nahm er sie spontan in die Arme und weinte heftig. Er sprach mehrmals die Worte „Mordr, Mordr“ aus. Erschüttert sah mein Vater dieser Szene zu. Mutter starb 2 Jahre später. Mir blieben sehr schöne Erinnerungen an die Zeit mit meinen Großeltern.

Bild ca. 1935: Oswald und Hulda Wieland mit ihren erwachsenen Kindern Max Wieland, Flora Buschbeck, Frieda Langer und Rudolf Wieland (v.l.)
Bild ca. 1935: Oswald und Hulda Wieland mit ihren erwachsenen Kindern Max Wieland, Flora Buschbeck, Frieda Langer und Rudolf Wieland (v.l.)

Die ältere Tochter Frieda heiratete 1912 Arthur Langer, Kartonzuschneider in Kemtau. 

Die Familie Arthur Langer wohnte mit ihren Kindern Helmut, Rudolf, Hilda und Harry ebenfalls im Haus Nr. 7. In den 30-iger Jahren baute sich Arthur Langer dann im Waldweg 21 sein eigenes Haus. Die jüngere Tochter Flora heiratete 1922 den Handlungsgehilfen Paul Buschbeck und zog nach Dittersdorf. Sie hatten den Sohn Günther. Der Nachzügler Rudolf lernte Handlungsgehilfe und sollte später das Haus der Eltern übernehmen. Aus seiner 1932 mit Helene Lang geschlossenen Ehe gehen die Töchter Margot und Gisela hervor.

Über den ältesten Sohn Maximilian, in Kemtau auch „Balvier-Max“ genannt, und seine Familie berichtet im folgenden seine Tochter Elsbeth Langer:

„Mein Vater, Maximilian Wieland, arbeitete nach seiner Schulzeit als Strumpfwirker in Kemtau. 1914 kam er zur aktiven Militärausbildung nach Glauchau und wurde als Trommler in einen Spielmannszug eingeteilt. Nach Ausbruch des 1.Weltkrieges kam er 1916 als Melder für den Offiziersstab an die Front nach Frankreich, wo er am 16.12.1916 an der Somme bei einem Meldegang schwer verwundet wurde. Nachdem ihm in einem Feldlazarett das rechte Bein amputiert wurde, kam er ins Lazarett nach Stettin in Pommern. Nachdem sein Zustand dort kaum voran schritt, wurde er 1918 nach Chemnitz verlegt. Neben der Genesung erfolgte hier die Berufseingliederung in eine Damenschneiderei. Dort lernte er meine Mutter Gertrud Popitz kennen, die hier ebenfalls als Schneiderin arbeitete. Im Jahr 1920 heirateten meine Eltern. Mein Vater wechselte seine Tätigkeit und arbeitete fortan als Nadelrichter bei Schubert & Salzer, dann bei Elbeo in Oberlungwitz und – bis Kriegsbomben auch die Werke in Chemnitz ausbrannten – bei Hilscher in Altchemnitz, alles Betriebe die Strumpfmaschinen herstellten. Durch seine Kriegsverletzung war er von der großen Arbeitslosigkeit nicht betroffen. Meine Eltern mieteten 1924 in Chemnitz eine größere Wohnung in der Jahnstraße 1. Hier wuchsen mein Bruder Gerhard und ich auf. Ich war 1923 geboren worden und Gerhard 1927. Als Arbeiterkinder verlebten wir eine harmonische und sehr schöne Kindheit. In unserer Familie wurde viel musiziert, wir durften an Schulausflügen teilnehmen und uns im Deutschen Turnverein sportlich betätigen. Mein Bruder lernte technischer Zeichner und ich Kaufmanns-Gehilfin. Mit Beginn des 2. Weltkrieges 1939 kamen viele Sorgen auf uns zu. Ich musste ein Jahr zum Arbeitsdienst und mein Bruder wurde 1944 mit 16 Jahren nach dem Arbeitsdienst gleich zur Wehrmacht verpflichtet. Nach vielen Luftangriffen auf Chemnitz, die wir im Luftschutzkeller verbrachten, traf am 5.März 1945 ein Phosphorbombenhagel auch unser Haus und vernichtete alles. Mit einem Handwagen zogen wir nach Kemtau in das Geburtshaus meines Vaters. Von da ab hörten wir auch nichts mehr von meinem Bruder, bis 2 Jahre später eine Vermisstenmeldung eintraf.

Bild Weihnachten 1940: Max und Gertrud Wieland mit ihren Kindern Elsbeth und Gerhard, rechts unten ein aufgenommener Waisen-Junge aus Hamburg
Bild Weihnachten 1940: Max und Gertrud Wieland mit ihren Kindern Elsbeth und Gerhard, rechts unten ein aufgenommener Waisen-Junge aus Hamburg

Seit Anfang 1947 arbeitete mein Vater als Nadelrichter bei Tesyra in Meinersdorf. Wir wohnten im Oberdorf auf dem Berg, der Bahnhof lag unten im Tal. Der Weg dahin war für ihn morgens 30 und abends zurück 50 Minuten. Bis zum Renteneintritt 1960, fast ohne Krankheitstage, ging er als Oberschenkel-Amputierter mit einer Prothese und zwei Stöcken. 

Meine Mutter litt schwer unter dem Verlust meines Bruders Gerhard. Deshalb erstand mein Vater von einem alten Schmiedemeister eine ca. 100 Jahre alte Naumann-Nähmaschine, die er erst mal wieder zum Nähen brachte. Durch das Schneidern wurde sie von ihrer Trauer abgelenkt. Es kamen viele Frauen aus dem Dorf, die Sachen zur Änderung brachten. Da schloss sich manches Schwätzchen auf der Gartenbank an und die Erkenntnis, dass viele Familien aus dem Dorf Gefallene zu beklagen hatten. Einige Zeit später lies mein Vater die Nähmaschine unter einem Vorwand abholen. Wiedergebracht wurde sie als moderne Schrank-Nähmaschine. Von da ab stand sie immer bereit und wurde gar nicht mehr abgedeckt. Vorrang bei der Anfertigung hatte bei Mutter immer die Kinderkleidung. Die Einkünfte waren allerdings sehr bescheiden. Sie verlangte für den Aufwand immer einen zu niedrigen Preis. Dagegen beschwerte sich sogar ein ortsansässiger Schneidermeister. Er bekam aber kein Recht. Denn sie hatte ja das Gewerbe angemeldet und zahlte Steuern.  

Nach der Geburt meiner Tochter Gerlinde 1948 fand ich eine Anstellung in meinem erlernten Beruf als kaufmännische Angestellte in der Verwaltung der Konsumbäckerei Meinersdorf. Gern betreute meine Mutter ihre kleine Enkeltochter tagsüber. 1960 starb meine Mutter kurz nach dem 40. Hochzeitstag meiner Eltern. Zur gleichen Zeit begann auch die Rentenzeit meines Vaters. Er werkelte nun im Haus und Garten und betreute mit Vorliebe seine Hasenzucht.“

Bild 1955: Einschulung von Gerlinde Wieland v.l. Max, Lene und Gertrud Wieland, Gerhard Müller, Flora und Paul Buschbeck, Frieda Langer, Hilda Müller; vorne die Kinder Gerlinde Wieland, Bernd und Dagmar Müller
Bild 1955: Einschulung von Gerlinde Wieland v.l. Max, Lene und Gertrud Wieland, Gerhard Müller, Flora und Paul Buschbeck, Frieda Langer, Hilda Müller; vorne die Kinder Gerlinde Wieland, Bernd und Dagmar Müller

Rudolf, der Bruder von Max, kam nicht aus dem Krieg zurück. Die verwitwete Lene und ihre Töchter Margot und Gisela lebten weiterhin im Haus Nr. 7. Anfang der 60-iger Jahre wanderten die beiden Töchter dann nach Kanada, der neuen Wahlheimat auch anderer Ex- Kemtauer, aus. Nachdem Rudolf als vermisst erklärt wurde, übernahm Max 1954 das elterliche Haus und zahlte seine Geschwister aus. Ihre freie Zeit verbrachte die Familie oft im Garten. Gern wurde in der Familie Skat gespielt oder Hausmusik gemacht. Dann spielte Elsbeth Geige und Gerlinde Akkordeon. Elsbeth war im Konsumverein und als Schöffe tätig.

Im Jahr 1967 heiratete Elsbeth ihren Cousin Helmut Langer. Das Wieland’sche Haus war Helmut vertraut, war er doch 1914 hier auf die Welt gekommen und anschließend aufgewachsen. Später ging aus der Ehe mit seiner verstorbenen Frau Dorle, geb. Beckert, die Tochter Karin hervor. Karin war Grundschullehrerin in Kemtau und heiratete Christoph Mey. Auch Elsbeths Tochter Gerlinde wurde Lehrerin. Sie lebte mit ihrem Ehemann Wolfgang Kunick in Finsterwalde in Brandenburg.

Bild ca. 1980: Elsbeth und Helmut Langer
Bild ca. 1980: Elsbeth und Helmut Langer

Nach dem Tod von Max Wieland erbte Elsbeth 1967 das väterliche Haus. Elsbeth und Helmut Langer verbrachten hier zusammen eine sehr schöne Zeit. Elsbeth fuhr bis zum Eintritt ins Rentenalter mit dem Zug zur Arbeit nach Meinersdorf, wo sie 35 Jahre im gleichen Betrieb tätig war. Helmut fuhr werktags mit dem Trabant nach Karl-Marx-Stadt, wo er bei der Germania als Kupferschmied arbeitete. In der Freizeit spielte er bei den Kemtauer Blasmusikern auf seiner Trompete. Urlaube und Wochenendausflüge mit dem Trabant waren für die beiden immer ein Erlebnis. Besonders, wenn einer oder mehrere ihrer Enkel dabei waren. Für ihre Enkel hatten Elsbeth und Helmut ein ganz großes Herz. Noch heute erinnern sich Mathias und Anne-Kathrin Mey -heute Schneider- sowie Roland und die Zwillinge Heike und Torsten Kunick gern an die vielen tollen Erlebnisse bei Oma und Opa in Kemtau.

Nach dem Tod von Helmut Langer verkaufte Elsbeth das Wieland’sche Haus an Egbert Welthe. Im gleichen Jahr 1987 zog sie zu ihrer Tochter Gerlinde nach Finsterwalde, seit 2002 lebt sie in Gelenau.

Balvier Wielands Haus heute
Balvier Wielands Haus heute

Anmerkung: Im Zwönitztalkurier vom November 2010 erschien diese Familiengeschichte schon einmal in gekürzter Fassung. Herr Roland Kunick hat nun das ungekürzte Original zur Veröffentlichung bereitgestellt. Vielen Dank dafür.