Ein außergewöhnliches Ereignis kurz vor Kriegsende 1945

von Alfred Schulze, ehem. Lehrer in Klaffenbach

mit freundlicher Genehmigung von Marianne Schulze

Der Anflug der Bü 181 auf einer Karte von 1938
Der Anflug der Bü 181 auf einer Karte von 1938

In meiner Kindheit war ich oft zu Besuch bei meiner Tante, Klara Meier, auf dem Grundstück der Kemtauer Straße 2. Es war der 4. Mai 1945. Ein laut dröhnendes Motorengeräusch ließ uns hochschrecken. Im Tiefflug steuerte ein Flugzeug mit verdeckten Hoheitszeichen die Bahnlinie entlang und landete schließlich auf einer Wiese zwischen Mühlberg und Erlberg. Was hatte das zu bedeuten?

Schnell rannte ich los um meine Neugier zu stillen. Unterwegs wurde mir zugerufen, dass mein Bruder Helmut und ein zweiter Pilot dort heruntergegangen seien. Kaum erwarten konnte ich es, meinen Bruder zu begrüßen, ich hatte ihn lange nicht gesehen. Immer schneller rannte ich. Atemlos erreichte ich den Landeplatz, doch Helmut war nicht zu sehen. Dafür standen bereits einige Neugierige am und sogar auf dem Flugzeug.

Doch das interessierte mich jetzt überhaupt nicht. Zu Hause berichtete ich meiner Mutter über das besondere Erlebnis. Sehnsuchtsvoll und voller Angst um ihn warteten wir auf Helmut. Erst nachts, 02:00 Uhr war es soweit. Wir konnten ihn endlich in die Arme schließen und seinen Kameraden begrüßen.

Der Abflug auf einer Karte von 2016
Der Abflug auf einer Karte von 2016

Beide waren sofort nach der Landung zum Verhör in die Gaststätte Elysium und nach Hormersdorf zum Divisionskommandeur gebracht worden. Glücklicherweise wurden sie bald wieder entlassen. Ohne viele Worte legten sie sich schlafen, denn sie mussten ja am nächsten Tag, dem 05. Mai, nach Thüringen weiterfliegen.

Das Flugzeug war vom Volkssturm bewacht worden. Trotzdem wurde eine Beschädigung der Tragfläche festgestellt. Offenbar wurde diese durch die Personen verursacht, die vorher auf die Maschine geklettert waren. Nach einer notdürftigen Reparatur wurde der Start zum Abhang des Erlberges verlegt um die notwendige Geschwindigkeit zu erreichen. Am Abend verfolgte ich den Abflug mit Hoffen und Bangen. Der „Vogel“ rollte den Berg hinab und hob erst ganz unten im Tal ab. Erleichtert schaute ich dem Flugzeug nach, bis es schließlich am Himmel verschwand.

Wie mir mein Bruder erzählte sollte der Flug in Richtung Zwickau gehen, doch tiefliegende Wolken zwangen sie zur Umkehr. Bei Großrückerswalde, in der Nähe des Segelflugplatzes, erfolgte wegen Einbruch der Dunkelheit eine Notlandung. Im Segelfluglager konnten sie übernachten. Von dort flogen sie am 7.5. weiter nach Thüringen.

Am 08. Mai 1945 meldeten sich beide bei der belgischen Besatzungstruppe und begaben sich in Gefangenschaft.

Was hatte Helmut und sein Kamerad zu solch gefährlichen und mutigen Handlungen veranlasst? Was war vorausgegangen? Nach Auflösung der Flugschule mussten sich beide Fluglehrer unter das Komando einer Waffengattung stellen. Zur Wahl standen die Fallschirmjäger, die Waffen-SS und die Luftwaffe. Sie blieben bei der Luftwaffe.

Am 28. April 1945 wurde in Neubiberg die Einsatzbesprechung durchgeführt. Geflogen werden sollte die Strecke Holzkirchen– Salzburg – Klagenfurt – Triest – Rimini, um in den beiden Hafenstädten Italiens amerikanische Flugzeuge zu sprengen. Was war das doch für eine „einfache Aufgabe“! Beide hatten keine Ausbildung zum Sprengen.

Das Flugzeug, dass ihnen zugewiesen wurde war eine Bücker BÜ 181.

Eine der von Bücker vor dem Krieg zur Schulung verwendeten Bü 181 Quelle: Wikipedia
Eine der von Bücker vor dem Krieg zur Schulung verwendeten Bü 181 Quelle: Wikipedia

Es war weder mit einem Maschinengewehr ausgerüstet, noch hatten die Piloten entsprechende Waffen. Auch mit den am Flugzeug unkenntlich gemachten Hoheitsabzeichen gab es keine Sicherheit. Selbst die Sonderausweise die sie vom Kommandeur der Nachtjäger erhielten, konnten ihnen keine Hilfe geben. Darin war vermerkt, dass jede Dienststelle die Piloten unterstützen sollte. In welche Gefahr sie sich bei diesem Einsatz begeben mussten war ihren Vorgesetzten wohl klar. Es ging um Leben und Tod, ein richtiges „Himmelfahrtskommando“. Trotz der riesigen Gefahr für die Piloten und trotz der Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens mussten sie in Salzburg starten und in Richtung Alpen fliegen. Doch dichter Nebel verhinderte einen Weiterflug. Der unsinnige Befehl konnte zum Glück nicht ausgeführt werden.

Beim Rückflug ging es zur besseren Orientierung im Tiefstflug die Salzach entlang. Da entdeckten sie über Salzburg Jagdflugzeuge deren Nationalität sie nicht erkennen konnten. Das irritierte sie so sehr dass sie durch eine Stromleitung flogen, die glücklicherweise zerriss. Beide kamen mit dem Schrecken davon. Später stellten sie fest, dass die Luftschraube beschädigt wurde. In Prien am Chiemsee konnten sie die alte durch eine neue ersetzen. Dort wurde ihnen befohlen im mitteldeutschen Raum mit Sprengstoff zu operieren um das Vordringen der amerikanischen Panzer zu erschweren. So mussten sie bei stark aufgeweichten Boden einen riskanten Start wagen, der zum Glück gelang. Der Flug ging nach Prag um sich bei der dortigen Luftwaffeneinheit zu melden.

Am 04. Mai erkundigten sie sich auf dem Gefechtsstand über die Frontlage bei Chemnitz. Gegen 19:00 Uhr flogen sie von Prag ab und landeten etwa 20:00 Uhr auf dem Gelände in Burkhardtsdorf.

Anmerkung:

Damit dieses außergewöhnliche Ereignis für die Ortsgeschichte nicht verloren geht, habe ich mich veranlasst gesehen, darüber zu schreiben.

Leider ist Helmut aus gesundheitlichen Gründen selbst nicht mehr dazu in der Lage.

Alfred Schulze


Historischer Hintergrund

ISBN 9783869330303
ISBN 9783869330303

Soweit zur Erzählung von Alfred Schulze. Zweifellos ist das geschilderte Ereignis eine wahre Begebenheit, denn es gibt dafür einige historisch belegte Fakten.

Helmut und sein "Kopilot" waren ehemals Fluglehrer. Fest steht, dass Mitte Februar 1945 die Flugzeugführerschulen der Luftwaffe stillgelegt wurden. Sowohl die Fluglehrer und die Schulflugzeuge wurden verlegt und für neue Aufgaben umgerüstet. Näheres dazu findet man unter Schulflugzeuge als Panzerjäger oder ausführlich im abgebildeten Buch. So kamen die beiden Piloten nach Neubiberg, einem ehemaligen Fliegerhorst 8 km südlich von München. Die eigentliche Geschichte beginnt dort am 28. April 1945. 

Am gleichen Tag meldete am Morgen der Reichssender München, dass der Krieg für Bayern beendet sei. Die Amerikaner waren wohl schon auf dem Vormarsch, denn am 30. April 1945 erreichten die amerikanischen Truppen den Fliegerhorst, der kampflos übergeben wurde. Der Einsatzbefehl, den die Beiden Piloten am Abend des 28. 4. bekamen, war der letzte Befehl und diente der Räumung des Standortes. 

Man kann auch von einer Flucht sprechen, wie die Feuerwehr von Unterhaching zu berichten weiß: Von Luftwaffenangehörigen des Militärflugplatzes Neubiberg wurde am 28. oder 29 April 1945 ein dort stationiertes Löschfahrzeug LF 25 zur Flucht benutzt und in Unterhaching zurückgelassen.


Zeitleiste der Ereignisse am Kriegsende 1945

Tag Große Geschichte Erzgebirge Kleine Geschichte
 28.4. Mussolini wird zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci von Partisanen erschossen.  Die Straßen waren voller Flüchtlinge und zurückkehrende Gefangene. In Neubiberg wird der letzte Einsatzbefehl ausgegeben. Helmut und sein Freund starten ins Ungewisse
29.4. Hitler heiratet im Führerbunker Eva Braun. Auf den Straßen gab es noch den Durchzug der deutschen Soldaten. Unterwegs nach Salzburg
30.4. 15.30 erschießt sich Hitler, seine Frau nimmt Gift. Auf dem Brandenburger Tor wird die Rote Fahne gehisst. In den Wäldern waren überall Materialien verstreut von den sich auflösenden Einheiten der Wehrmacht: Geschütze, Panzerfäuste, Fahrzeuge. Dichter Nebel verhindert den Weiterflug
1.5. Joseph Goebbels begeht Selbstmord, nachdem er zuvor Frau und Kinder umgebracht hat. Offizier in Aue: "Ich erkläre als Offizier jeden für einen feigen, erbärmlichen Lumpen, der jetzt in Deutschlands schwerster Stunde sich vom deutschen Volk und seiner Führung lossagt."  Kollision mit einer Stromleitung
2.5. Befehl zur Kapitulation der Reichshauptstadt Der "Erzgebirgische Volksfreund" titelt: "Der Führer in seinem Befehlsstand gefallen". Reparatur in  Prien am Chiemsee
3.5. Albert Speer widerruft sämtliche Zerstörungsbefehle Hitlers in einer Rundfunkrede Die NSDAP-Kreisleitung Aue ordnet an, dass die Trauerbeflaggung zum Heldentod des Führers bis Freitagabend, andauert. Flug nach Prag
4.5. Kapitulation weiterer Truppenteile Gauleiter von Schwarzenberg: "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott". 20.00 Uhr Landung in Burkhardtsdorf