Johann Sebastian Bach in Klaffenbach?

von Frank Müller, Klaffenbach

Bei der Durchsicht alter Akten im Staatsarchiv fand ich unter abgelegten Rechnungen der Rittergutsherrschaft Neukirchen ein Bündel aus etwas feinerem Büttenpapier, das sich von den üblichen grauen Blättern deutlich abhob. Es schien sich um einen Teil eines ehemals gebundenes Büchleins zu handeln, doch waren weder ein Einband noch die ersten Seiten vorhanden. Etwa ein Drittel der Blätter war mit handschriftlichen Notizen bedeckt, doch war die Tinte so sehr verblasst, dass die Schrift nur noch an einigen Stellen leserlich war. Was ich entziffern konnte, war in einem seltsam umständlichen Stil formuliert und bezog sich auf irgendwelche alltäglichen Ereignisse. Schon wollte ich die traurigen Reste wieder in die Akte legen, als eine lose Seite heraus fiel, die in der Art eines Titelblattes gestaltet war. Wie überrascht war ich, als ich darauf die Worte las:

Journal1 de Jean Sebastien Bach?

Maitre de Chapelle de S. A. S. le Prince regnant d' Anhalt-Coethen?

 

Dass Johann Sebastian Bach von 1717 bis 1723 Hofkapellmeister in Köthen war, ist ja gut bekannt. Aber wie bitte schön kommt sein Tagebuch in die Akten der Gutsherrschaft Neukirchen? Ich begann zu suchen und fand einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Eintragung:

„... Friedemann zur Music gar wohl incliniret und gestern aus seinem neüen Clavier-Büchlein praeludiret...“

Bach begann am 22. Januar 1720, in besagtes Clavier-Büchlein Übungsstücke für seinen damals neunjährigen ältesten Sohn einzutragen.

„... das Praeludium ex Sol minor anlangend, das ich hier zu Carlsbad auffgesetzet, noch eine Fugam zu verfertigen, die ich bey Gelegenheit, so mein allergnädigster Fürst mir das Ansinnen, nach Hamburg zu reisen nicht abschlagen wolle, mit des Höchsten Beystand ...“

„... wann die Hamburger fahrende Post von Cöthen gehet ...“

Bach begleitete seinen Fürsten 1720 auf dessen Reise nach Karlsbad. Schon damals trug er sich also  mit dem Gedanken an die Reise nach Hamburg, die er wenige Wochen später tatsächlich unternahm, um sich für die Kantorenstelle an der Katharinenkirche zu bewerben. Auch die letzten Eintragungen handelten von einer Reise, genauer gesagt von einem Zwischenfall im Wirtshaus:

„... hatten sich nemlich S. Durchlaucht bereits zurückgezogen, als bey Ankunft der Annaberger Post im Wirthshause eine confusion entstand ...“

„… zumahln ihme das Bier etwas lauicht zu seyn schiene. Hierüber gerieth der Schafner erneut in Wuth, daß er ihn schimpffte, und das thäte ein Hundes. Da es denn das Ansehen gewinnen wollte, als ob noch einige Claffenbacher Parthey ergreiffen wollten, erschienen nun S. Durchlaucht in der Schanck-Stube und begehrten zu wißen, wer es wage, Höchstderoselbige nächtlicherweise mit seinen calamitäten zu incommodiren. Der Cammer-Diener und der Kutscher baten hierauf unthertänigst um Vergebung, und gedachten Schafner zu verdiente straffe zu ziehen, und ihme genügliche Satisfaction thun zu laßen.“

Hier bricht die Handschrift ab. Was war geschehen? Hatte Bach in dem allgemeinen Durcheinander sein Tagebuch verloren oder es in der Aufregung liegen gelassen? War das Buch später vom Wirt gefunden und bei seiner Gutsherrschaft, der damals die Bergschenke gehörte, abgegeben worden?

Aber wie kommt Johann Sebastian Bach überhaupt nach Klaffenbach? Es muß auf der Rückfahrt von Karlsbad im Sommer 1720 gewesen sein. Als Bach einige Tage später zu Hause in Köthen ankam, war seine Frau Barbara verstorben, so daß er andere Sorgen hatte, als nach dem Verbleib seines Tagebuches zu forschen.

Obwohl der Fürst mit seinen Bediensteten sicherlich in eigenen Kutschen reiste, wird er die gut ausgebauten Poststraßen benutzt haben. Köthen lag direkt an der Strecke von Hamburg nach Leipzig. Bis nach Leipzig waren es 7 Meilen. Für diese Strecke zahlte ein Fahrgast im Jahre 1755 23 gr. Passagiergeld für die Postämter und 12 gr. Stationsgeld für den Postmeister. Dies entsprach der normalen Taxe von 5 gr. je Meile.

Von Leipzig führte eine Poststraße weiter über Borna, Frohburg, Penig, Chemnitz und Thum nach Annaberg und weiter nach Karlsbad. Ein Reisender konnte dienstags oder sonnabends um 17 Uhr in Leipzig losfahren. Für die 11 Meilen bis Annaberg waren 1 rth. 6 gr. Passagiergeld und 1 rth. Stationsgeld fällig. In dem Fahrgeld war die Mitnahme eines Felleisens2 oder Koffers von 30 bis 40 Pfund Gewicht je Person inbegriffen.

Ein Brief von Leipzig nach Annaberg hätte hingegen einen Groschen gekostet und wäre am Dienstag- oder Sonntagabend von Leipzig abgegangen. Von Chemnitz aus gab es auch eine reitende Post nach Joachimsthal und Karlsbad.

Besondere Taxen galten für Handelswaren und Wertpakete.

Eine weibliche Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. „Herr Müller, sind Sie eingeschlafen? Das Archiv schließt in zehn Minuten.“

Wo war Bachs Tagebuch? Oh, Mann! Das hatte ich alles nur geträumt. Dabei wäre es die Sensation des Jahrhunderts gewesen. Im Gegensatz zu anderen Komponisten hat Johann Sebastian Bach nämlich nur sehr wenig Schriftliches und davon kaum etwas Privates hinterlassen. Neben einigen Eingaben an übergeordnete Behörden ist leider nur ein einziger Privatbrief von seiner Hand überliefert, den er an seinen Jugendfreund Georg Erdmann richtete.3


Journal (frz.) = Tagebuch

von valise (frz.) = Koffer, eine Art Tornister oder Rucksack, wie ihn reisende Handwerker und Postboten trugen

Die hier genannten Bachschen „Zitate“ sind aus besagtem Brief an Erdmann, dem Protokoll über die Auseinandersetzung mit dem „Zippelfagottisten“ Geyersbach und verschiedenen Widmungen auf Bachschen Partituren entlehnt und zusammengestellt. Die genannten Einzelheiten zu den Poststraßen sind hingegen authentisch und stammen aus dem Leipziger Adreß-, Post- und Reise-Calender von 1755. 


Quellen:

- Walther Siegmund-Schultze: Johann Sebastian Bach, Reclams Universal-Bibliothek Band 633, Leipzig 1976

- Jens Philipp Wilhelm: „Der Fall J. S. Bach“ - einige Anmerkungen nach heutigem Recht zu den Arnstädter „Verdrießlichkeiten“ Johann Sebastian Bachs, http://www.jwilhelm.de/fallbach.pdf, abgerufen im Dez. 2015

- Leipziger Adreß- Post- und Reise-Calender Auf das Jahr Christi M. DCC. LV., SLUB Dresden, http://digital.slub-dresden.de/id372456510-17550000 (CC-BY-SA 4.0)