Die Sage von der Burg Greifenstein

Die Felsengruppe des Greifensteins zeigt an vielen Stellen Spuren von Mauerwerk, und da man auch innerhalb und bei demselben Pfeile, Eisenwerk und dergl. gefunden hat, so scheint die Vermuthung nicht unwahrscheinlich, daß jene einst ein Raubschloß in sich gefaßt habe. Das Volk erzählt sich über den Untergang desselben eine schauerliche Geschichte, die also lautet. Im 11. Jahrhundert soll ein Ritter, Odo von Greifen, an dem Hofe des Herzogs Wratislaw von Böhmen gelebt haben und nachdem er sich von hier ein Fräulein entführt, mit dieser in den damals fast nur von wilden Thieren bewohnten Freiwald bei Thum gezogen sein und sich hier ein Schloß, die Greifenburg, erbaut haben. Hier lebten Beide nur der Erziehung ihres einzigen Sohnes, eines Tages aber brachte der Ritter von einem seiner Jagdzüge ein kleines Mädchen von ohngefähr 2 Jahren mit nach Hause, die er im Dickicht schlafend gefunden hatte. Diese ward nun mit dem jungen Ritterssohne zusammen erzogen, beide liebten sich wie Geschwister, als sie aber in das mannbare Alter getreten waren, versäumten ihre Eltern sie gehörig zu überwachen und ihrem beständigen Zusammensein Hindernisse in den Weg zu legen. So kam es, daß aus der geschwisterlichen Zuneigung ein weniger unschuldiges Verhältniß entstand, in einer unbewachten Stunde vergaßen sich die Liebenden und nach Verlauf einiger Monate fühlte sich das unglückliche Mädchen Mutter. Zwar hoffte sie, es werde ihrem Geliebten gelingen, seine Eltern dahin zu stimmen, daß sie ihre Einwilligung zu seiner Verheirathung mit seiner Pflegeschwester gewährten, leider fand sich aber keine passende Gelegenheit, und als eines Tags der Junker ausgezogen war, um einem Waffenbruder seines Vaters, Bruno von Scharfenstein, gegen einen Raubritter, Namens Rekko von Rauenstein, der schon vor 18 Jahren die schwangere Gemahlin des erstern geraubt hatte und jetzt abermals dessen Schloß belagerte, beizustehen, entdeckte seine Mutter die Schwangerschaft ihrer Pflegetochter. Natürlich konnte sie nicht im Zweifel sein, wer der Urheber derselben war, sie entdeckte also ihrem Gemahl Alles, allein da Beide sehr adelstolz waren, so fiel es ihnen gar nicht ein, den einmal geschehenen Fehltritt der beiden jungen Leute zuzudecken. Im Gegentheil, sie behandelten das unglückliche Mädchen ganz als sei sie eine freche Buhldirne und habe den Junker verführt, und ließen sie unter schweren Mißhandlungen in’s tiefste Burgverließ werfen. Hier genaß sie unter furchtbaren Schmerzen eines Knäbleins, und da sie sich von Gott und Menschen verlassen glaubte, schleuderte sie dasselbe an die Mauer des Kerkers. Da stand plötzlich eine weiße Gestalt vor ihr, welche ihr sagte, sie sei seit undenklicher Zeit wegen einer ähnlichen Handlung zum ruhelosen Umherirren von dem Schicksal verurtheilt gewesen, jetzt aber durch sie erlöst worden, und sie werde nun ihre Stelle einnehmen, bis einst ein keusches Weib, welches niemals einen unreinen Gedanken in ihrer Seele gehegt, in stiller Mitternacht ihren Namen dreimal ohne Furcht rufen werde. Die Unglückliche sank tödtlich erschrocken zu Boden und erwachte nicht wieder, wohl aber erschien ihr Geist dem hartherzigen Pflegevater und verkündete seinem Hause Verderben. Reuig eilte er in ihren Kerker hinab, allein er fand nur ihren Leichnam und den ihres neugeborenen Kindes. Er ließ Beiden ein prächtiges Begräbniß ausrichten, allein eben als man sie beisetzte, kehrte sein Sohn als Sieger von seiner ersten Waffenthat zurück. Voller Freude eilte er der Burg seines Vaters entgegen, denn er hatte aus dem Munde des gefangenen Raubritters erfahren, daß seine Geliebte das von Letzterem im Freiwalde ausgesetzte Töchterchen der entführten Gemahlin des Ritters von Scharfenstein sei, und hoffte nun nichts gewisser, als daß seine Eltern nunmehr ihre Einwilligung zu seiner Verbindung mit ihr nicht mehr versagen würden. Böses ahnend, als er die Trauerfahne vom Schloßthurme wehen sah, sprengte er in den Schloßhof, wo ihm der Leichenzug entgegenkam. Die Wahrheit konnte ihm nicht verheimlicht werden, er stieß einen furchtbaren Fluch gegen seine hartherzigen Eltern aus und sank in eine tiefe Ohnmacht, aus der er nur wieder erwachte, um für immer in geistiger Nacht zu leben. Seine Eltern überlebten diese furchtbare Katastrophe nicht lange, ihr unglücklicher Sohn ward auf seine Lebenszeit in einem Kloster untergebracht und der Herzog Wratislaw übergab die Burg Greifenstein als erledigtes Lehen einem andern böhmischen Ritter, der sie aber auch nicht lange behielt, denn da er mit seinen Nachbarn in beständiger Fehde lebte, vereinigten sich dieselben zuletzt gegen ihn und berannten, eroberten und zerstörten die Burg. Noch jetzt aber soll zwischen den Felsen der Geist jenes unglücklichen Mädchens, ihr zerschmettertes Kind auf den Armen, herumirren und den Wanderer durch sein Wehegeschrei erschrecken.

 

Aus: Johann Georg Theodor Grässe: Der Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Band 1. Schönfeld, Dresden 1874, Seite 451.